Tübingen - Schriftwechsel mit OB Palmer und Polizei
2021-11 hatte ich an Tübingens OB Boris Palmer geschrieben:
Sehr geehrter – so gemeint, wie geschrieben! – Herr Bürgermeister Boris Palmer, seit einem Weilchen bin ich ehrenamtlich u.a. über den VCD verkehrspolitisch aktiv –
Im Speziellen bringe ich mich ein in die Diskussion um das Radwegeverbot für 45km/h S(peed)-Pedelecs – als begeisterte Nutzerin eines solchen -, dabei spielen oft Bedenken eine Rolle, diese könnten große Nachteile v.a. für schwächere Verkehrsteilnehmer bedeuten.
Ich kenne den Weg von Tübingen, das Radwege per „S-Pedelec-Frei“ – Schilder freigibt (dank Ihres tollen Engagements mittels einer Sondererlaubnis für BW). Gerne würde ich bei der Argumentation wissenschaftlich valide Ergebnisse benennen können, welche Erfahrungen bisher gemacht wurden (eine Anfrage an verkehrsplanung@tuebingen.de – im August – wurde leider nicht beantwortet, darum schreibe ich Sie nun persönlich an).
Kennen Sie vllt. auch Ergebnisse aus Belgien oder der Schweiz oder jemanden, der sich näher mit dem Thema befasst? Ich habe mich auch aktuell an Prof. Jochen Eckart der Hochschule Karlsruhe gewandt, u.a. damit: „Vielleicht wäre es ja auch ein mögliches Forschungsfeld – evtl. im Rahmen einer Abschlussarbeit o.ä. (Befragungen von Tübinger Bürgern – … per Online-Umfrage – Unfallstatistik usw.).
Es wäre erfreulich, wenn die Wissenschaft einen Betrag dazu leisten könnte, dass die strikte Straßenbenutzungspflicht für S-Pedelecs überprüft wird. Somit könnte das hohe Sicherheitsrisiko für deren Nutzung reduziert und deren Potenzial für die Mobilitätswende, v.a. für die Landbevölkerung, besser ausgeschöpft werden.“
Antwort von Herrn Palmer:
… Ich kenne dazu keine wissenschaftlichen Studien
Ich weiß nur, dass in der Schweiz zehnmal mehr S-Pedelecs verkauft werden als bei uns
In der Praxis sehe ich auch keinerlei Problem, daher ist das für mich keine Frage von Wissenschaft
Bin aber auch kein Wissenschaftler …
Hier noch ein kleiner Bericht in der Zeit vom Oktober 2022 https://www.zeit.de/mobilitaet/2022-10/s-pedelecs-e-bike-auto-tuebingen/komplettansicht
Da kann man sich das S-Pedelec-Routennetz von Tübingen ansehen (große Datei, lädt etwas länger)
Schriftwechsel mit Polizei im Herbst 2022
z.B. gab es seit Freigabe (2018) tödliche, schwere und sonstige Unfälle mit Personenschaden (mit Haupschuld des S-Pedelec-Fahrenden, die mit der Freigabe der Radwege in Zusammenhang stehen (bzw. so nicht auch mit einem Fahrrad passiert wären)? Welche Konflikte sind bekannt bzw. Verstöße begehen sie?
Wir hatten in den letzten drei Jahren 13 Unfälle mit der Verkehrsart, S-Pedelec im Stadtgebiet Tübingen. Bezogen auf die Unfallörtlichkeiten ist kein Schwerpunkt erkennbar. Noch sind S-Pedelecs im Verkehrsraum selten anzutreffen und eher als „Nischen-Produkt“ wahrnehmbar. Die Hürden einer Versicherungspflicht, Fahrerlaubnispflicht und Helmpflicht scheinen einer Nutzung von S-Pedelecs entgegenzustehen. Bedauerlicherweise müssen wir bei unseren Kontrollen auch feststellen, dass normale Pedelecs durch einfachste Manipulationen „ertüchtigt“ werden und so schon beachtliche Geschwindigkeiten erreichen. Der geringe Bestand an S-Pedelecs lässt daher aus Sicht der Polizei noch keine fundierte Aussage hinsichtlich der Verkehrssicherheit zu. Einzelne Unfälle mit S-Pedelecs gehen derzeit in der Vielzahl der Unfälle im Polizeipräsidium Reutlingen eher unter, dennoch sind mir zwei schwere Unfälle mit Beteiligung von S-Pedelec bekannt:1. S-Pedelec-Fahrer fährt vom Gehweg (nicht zulässig) von der falschen Seite in falscher Richtung (beides von links gesehen) auf die Fahrradstraße ein und kollidiert mit einem entgegenkommenden Radfahrer. Dieser wurde aufgrund des Zusammenstoßes schwer verletzt (Halswirbelbruch).
2. S-Pedelec-Fahrer fährt aus einem Einmündungsbereich in die Fahrradstraße ein. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit des S-Pedelec-Fahrer kam es im Einmündungsbereich zur Kollision mit einem Radfahrer, welcher ordungsgemäß auf der Fahrradstraße fuhr. Der Radfahrer wurde schwer verletzt (Wirbelsäulenfraktur und Fraktur der Hand). Der Radfahrer gab an, dass der S-Pedelec-Fahrer sehr schnell fuhr und er keine Möglichkeit hatte auszuweichen. Auch wenn S-Pedelecs äußerlich den Anschein eines Fahrrades haben, sind diese doch Kraftfahrzeuge, welche wir im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidium Reutlingen auch so einstufen und in der Folge eine Freigabe von S-Pedelec innerörtlich auf Rad- und Fahrradstraßen grundsätzlich ablehnen. Außerorts erfolgt nach eingehender Prüfung in Zusammenarbeit mit den Straßenverkehrsbehörden eine Zustimmung, wenn die Wege eine ausreichende Breite aufweisen und es die örtlichen Begebenheiten zulassen.
Die Stadt Tübingen geht hier, trotz unserer Intervention andere Wege. Allerdings weißt die Stadt Tübingen eine erhöhtes Unfallaufkommen im Radverkehr auf; dies aber auch aufgrund der Vielzahl an Fahrradfahrende Verkehrsteilnehmern.
– Falls das erfasst wird: wie oft werden S-Pedelec-Fahrende Opfer vom Fehlverhalten PKW/LKW-Fahrenden, wenn sie die Straße nutzen?
Diesbezüglich haben wir keine Feststellungen bzw. wenn, dann handelt es sich um Fehlverhalten der Rad-/S-Pedelec-Fahrer, welche sich nicht an Vorschriften der StVO halten.
– Wie ist die Akzeptanz in der – v.a. radfahrenden und zufussgehenden – Bevölkerung?
Dies wurde im Einzelnen nicht speziell untersucht bzw. hierzu haben wir keine Erhebungen vorliegen.
Ich kann ihnen lediglich meine persönliche Wahrnehmung wiedergeben: Ich persönlich meide die Innenstadt von Tübingen. Früher war ich dort oft unterwegs. Heut fühlt man sich als Fußgänger dort unsicher und muss von jeder Richtung/Seite/Straßenteil mit Radfahrende rechnen, welche sich an gar keine Vorschriften mehr halten.
– Wie ist die Haltung der Tübinger Polizei dazu?
Weiß man, wie viele S-Pedelecs in Tübingen unterwegs sind?
Hierzu haben wir keine Erhebungen oder Auskünfte. Dies kann aufgrund der erforderlichen Haftpflichtversicherung evtl. über den Bundesverband der Versicherer erfragt werden.
(Ich wurde gefragt: – wird Ihre Arbeit bzw. das Ergebnis veröffentlicht? Wenn ja wo?)
Je nachdem was Ihre Daten hergeben, zur Gewinnung von Erkenntnissen kann da im Prinzip alles dazu interessant sein …
Siehe auch oben, ggf. könnten die Ergebnisse veröffentlicht werden in Forschungsberichten oder Postitionspapieren von Verbänden, je nach Vereinbarungen (zu Ihren Anliegen) wäre eine Weitergabe an Presse denkbar.
Gerne würden „wir“ diese auch an das BMVI übermitteln, bzw. auch an die einzelnen Landesverkehrsministerien, um sie ggf. zu überzeugen, dem Beispiel von Baden-Würtenberg zu folgen.
(https://www.agfk-bw.de/fileadmin/user_upload/2021-10-12_AGFK-BW_Positionspapier_S-Pedelecs.pdf) Einzelheiten zu allen diesen Punkten wären wahrscheinlich besser persönlich zu klären, falls Ihre personellen Kapazitäten das überhaupt gestatten …
Ich danke Ihnen für weiteren Austausch, freundliche Grüße
Sehr geehrter Herr F., vielen Dank für Ihre schnelle und ausführliche Antwort. Zu einigem möchte ich gerne noch Anmerkungen machen:
ZU: Die Hürden einer Versicherungspflicht, Fahrerlaubnispflicht und Helmpflicht scheinen einer Nutzung von S-Pedelecs entgegenzustehen. Bedauerlicherweise müssen wir bei unseren Kontrollen auch feststellen, dass normale Pedelecs durch einfachste Manipulationen „ertüchtigt“ werden
Zahlreichen Berichten kann man entnehmen, dass das Haupthemmnis das Radwegebenutzungsverbot außerorts ist, welches dem Sicherheitsbedürfnis der Nutzenden sehr entgegensteht (die erwähnten „Pflichten“ werden weitgehend gut akzeptiert). Ich sehe im S-Pedelec wie viele Andere – besonders für den ländlichen Raum – ein großes Potenzial, Autoverkehr zu reduzieren, besser weniger von wesentlich gefährlicheren Autos, als S-Pedelecs in ein Nischendasein zu drängen …
Zu den getunten Pedelecs meine ich: vermutlich gäbe es weniger davon, wenn die Bedingungen für S-Pedelecs etwas unkomplizierter wären (rechtlich zwischen Mofa und Moped), dann hätten „die Schnelleren“ eher ein Kennzeichen, mit dem sie bei Übertretungen leichter identifiziert werden könnten und Führerscheinbesitz etc. sind mit höherer Wahrscheinlichkeit gewährleistet. Also es könnte auch Vorteile haben, die Widrigkeiten zu verringern. Ich stimme sicherlich dem zu, dass durch die höhere Geschwindigkeit ein gewisses erhöhtes Unfallrisiko besteht. Allerdings heißt es in GDV, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Nr. 46, Unfallforschung kompakt, Pedelec, neues Risiko? 2014 hier Seite 7-9: zur Geschwindigkeit „Das bedeutet, dass Pedelec- und S-Pedelecfahrer trotz höherer Durchschnittsgeschwindigkeiten nicht häufiger in kritische Situationen geraten als Fahrradfahrer“. Auch verursachen bei dem in den Unfällen beschriebenen Fehlverhalten, ähnlich schlimme Folgen.
Inwiefern das speziell bzgl. S-Pedelecs eine Rolle spielt, bedarf noch der genaueren Prüfung … (entsprechende Forschungsvorhaben sind angestoßen) Ich verstehe gut, dass Ihnen als Fußgänger ein hohes Radfahreraufkommen unangenehm ist, aber wie wäre das, wenn all diese Leute stattdessen Auto fahren?
Ich will nicht alle Vergehen der Radfahrenden entschuldigen, aber es wäre zu bedenken: nicht selten halten sie sich deshalb nicht an die Regeln, weil es ihnen das Infrastrukturangebot nicht gerade leicht macht … (auch in Studien belegt). Leider wird es weiterhin unter ALLEN Arten von VTNn einen Anteil geben, die sich nicht an alle Regeln halten, dennoch muss eben auch jedem Autofahrer ermöglicht werden eine Tempo 30 Zone zu befahren. So sollte an einer Bundesstraße auch ein S-Pedelec auf einem – viel sichererem – Radweg in angemessenem Tempo fahren dürfen, wenn der Nutzende sich dort viel wohler fühlt – was würden Sie – unabhängig der Rechtslage – Ihren Angehörigen empfehlen? Übrigens ist dieser Artikel zu S-Pedelecs kürzlich erschienen, da heißt es: „Das Miteinander der Verkehrsteilnehmer*innen funktioniere einwandfrei, berichtet Projektleiter Daniel Hammer“ (aus Tübingen).
Ich schrieb: wie oft werden S-Pedelec-Fahrende Opfer vom Fehlverhalten PKW/LKW-Fahrenden, wenn sie die Straße nutzen? Diesbezüglich haben wir keine Feststellungen bzw. wenn, dann handelt es sich um Fehlverhalten der Rad-/S-Pedelec-Fahrer, welche sich nicht an Vorschriften der StVO halten.
Das klingt so, als wären alle „Rad“-Unfälle nur durch „Rad“fahrende verursacht und „nie“ durch Autofahrende, ist das wirklich so?
Ich hoffe sehr, dass bald für die Beteiligten gute Lösungen gefunden werden, und somit auch dieser Baustein für eine Verkehrswende auch im Sinne des Klimaschutzes eine bessere Chance bekommt.
Ich hab‘ jetzt nicht alles gelesen, aber: Bitte NICHT so viele Anfragen an Polizei und Behörden! Das macht die Sache NICHT besser! Das nervt diese Stellen nur. Im Zweifelsfall werden die sich auf die derzeit geltenden Regelungen zurückziehen. Bitte einfach – angepaßt! – fahren, wie die allermeisten anderen S-Ped-Fahrer auch…
PS: ich fahre auch S-Ped und hab auch mal in Tübingen gewohnt: einfach aufpassen und vernünftig fahren. Warum muß ein S-Ped Fahrer so schnell in einen Radweg einfahren, dass andere Wirbelbrüche erleiden – klar, das warst Du nicht, aber so was bleibt dann bei den entsprechenden Stellen (hier: Polizei Reutlingen) hängen.
Es ist nicht meine Absicht noch mehr solcher Anfragen zu versenden, es ging mir nur darum, von einer offiziellen Stelle in Tübingen zu erfahren, ob die Sonderregeln dort einen spürbaren negativen Effekt haben, schließlich ist es der einzige Ort in Deutschland wo andere Lösungen getestet werden. Eigentlich sollten ja Schweiz und Belgien schon Beweis genug sein, dass keine außerordentliche Gefahr von den S-Pedelecs ausgeht … naja
Klar soll man solche Stellen nicht nerven, aber mMn sollte man schon auf das Problem aufmerksam machen, es totschweigen macht es auch nicht besser.
Und – wie vorgeschlagen – die meisten Leute auf S-Pedelecs fahren (teilweise) auf Radwegen, eben angepasst! und berichten es gäbe normalerweise keine Schwierigkeiten damit. Ganz auszuschließen ist halt nie, dass doch mal Konflikte oder Unfälle gibt, aber wahrscheinlich nicht mehr, als wären die mit sonstigen Fahrrädern unterwegs
Auch der Antwort der Polizei entnehme ich: es gibt wohl keine offensichtlichen Probleme deswegen, aber man befürwortet es trotzdem nicht.
Zu Deinem Video auf der Bundesstraße: einfach 50 cm (reicht schon) Pool-Nudel links rausschauen lassen, grau genügt, gelb oder rot wird evtl. als provokant empfunden. Oder „offiziell“, dann wird auch die Farbe akzeptiert: schon früher gab es so orange Klappkellen für die Fahrräder, die gibt es immer noch, einfach mal bei den gängigen online-Versandhäusern unter „Abstandhalter Fahrrad“ suchen…