Verkehrspolitik "unter uns"
JH schrieb:
Hallo Team! Hallöchen, ich habe mich seit 50 Jahren mit dem Thema Verkehr/Mobilität beschäftigt, schon in meinem Geographie-Studium. Bin auch seit VCD-Gründung Mitglied. Ich sehe und verstehe die hier bisher individuell dargestellten Sichtweisen und habe mich persönlich wg. der Haftung deutlich gegen ein S-Pedelec entschieden. Meine Frau und ich sind aber ständige Nutzer qualitätvoller r-m-Pedelecs und fahren damit im Jahr ca. 7 Tsd. km, Fernstrecken aber als autoloser Haushalt mit der Bahn. Vom System her sehe ich es keineswegs so, dass das S-Pedelec eine von Politik, Autoindustrie und ADAC unbeachtete Nische darstellt. Das scheint nur so. Jede Art ernsthafter Konkurrenz zum Autosyndrom unserer Gesellschaft wird dort still argwöhnisch verfolgt und nach Möglichkeit auch bekämpft. Die US-Industrie hat es in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts geschafft, in Großstädten gut funktionierenden ÖPNV stillzulegen, die Straßenbahnen aufgekauft und die Schienen herausreißen lassen. Sie hat es in D geschafft, überwiegend CSU-Verkehrsminister zu installieren, unter der Ägide die Bahn privatisiert werden sollte, Tausende Kilometer Schiene stillgelegt wurden usw.
Die Bahn ist per se echt funktionierende Elektromobilität, schafft volle Recuperation mittels Fahrdraht, usw. Wie ist zu erklären, dass dennoch Mio € für Fahrdrähte auf Autobahnen ausgegeben werden, um Riesen-Akkus für Lkw aufladen zu können? Das Ganze hat System! Zu diesem System gehört die strukturelle Gewalt auf den Straßen, die Leichtfahrzeugen ein Mehrfaches an Unfallgefahr aufbürdet im Vergleich zu massereichen. Das Leichtfahrzeug „Twike“ gibt es schon viele Jahre, kann sich nicht durchsetzen – trotz Fähigkeit wettergeschützt sogar 160 km/h schnell zu sein. Warum? Weil sich die meisten Leute zu Recht fürchten, in so einer Knutschkugel von einem SUV-Fahrer aus Versehen schwer beschädigt zu werden. In dieser Haltung – Hauptsache Sicherheit für mich, die der anderen Fahrzeuge auf der Straße ist weniger wichtig – liegt ein rationaler Grund für den Hype bei SUVs im Neuwagenverkauf. Ich rate zu einer genauen Analyse der hyperstark und z.T. willkürlichen Einschränkungen des S-Pedelec, aber auch bei den Deckelungen der elektr. Leistung für Pedelecs. Im VCD-Arbeitskreis hat sich das Argument durchgesetzt, dass die Gegner des wirklich fulminanten Pedelec-Hypes in D jeden Vorwand nutzten, um dem Pedelec den Status des Fahrradprivilegs zu nehmen, oder wenigstens für dieses Fahrzeug eine behindernde Helmpflicht einzuführen.
Wenn man also die strukturelle Gewalt auf den Straßen vermindern wollte, müsste mindestens die Geschwindigkeit der gefährlichen massereichen Fahrzeuge denen der verletzbaren angepasst werden. Tempo 30 flächendeckend innerorts bis auf Ausnahmestraßen wäre also angesagt und wird bisher aus durchsichtigen Gründen gesetzlich mehreren Städten verweigert, die dies beantragt haben. Dann müsste es so sein, dass Autofahren die vollen externen Kosten internalisieren müsste, derzeit werden vom Autonutzer im Schnitt nur 36% seiner volkswirtschaftl. Kosten getragen. Dann müsste es so sein, das ein hervorragender und komfortabler Regional- und Fernverkehr auf der Schiene so ziemlich alles mitnimmt, was es unter den heutigen Rädern gibt, auch Lastenräder und Anhänger. Das systematische Kaputtsparen der Bahn in den letzten Jahren bei exorbitanten Ausgaben für überflüssige Tunnel und Hochgeschwindigkeitsstrecken müsste beendet, die aufgehäuften Defizite sukzessive abgebaut werden. Nur bei so einem verkehrspolitischem Rückenwind wird sich der derzeit vorhandene Verkrüppelungs-Zustand für das S-Pedelec ändern lassen, denke ich.
AH.: da muss ich jetzt zur Unterhaltung auch ein bisl auftrumpfen mit meinem Weber Ritschi, seit 1998 ununterbrochen im Dienst, nehme ich jede Transportherausforderung mit dem Fahrrad an.
Und noch ein Sprücherl (Motto meines örtlichen Radlladens):
Ein Leben ohne Fahrrad ist zwar möglich, aber völlig sinnlos
A schrieb an JH.: Danke für deine Sichtweise zu S-Pedelec, Bahn und politischer Situation. Ich nehme die Gegebenheiten nicht immer als gegeben hin und hinterfrage auch mache Sachen. Doch beim kaputtsparen der Bahn und bei der Fehlbesetzung des Verkehrsministerpostens durch die CSU stimme ich dir zu 100% zu. Was mir an alles Diskussionen fehlt, sind die Rahmenbedingungen eines jeden Einzelnen, denn meist wird von sich selbst aus einfach so auf andere geschlossen. Nicht jeder kann alles per Bike machen – das können u.a. gesundheitliche, topografische, organisatorische Gründe oder gar mangelnde Fähigkeiten sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, eine sechsköpfige Familie ohne Auto bei 0 Grad 10km und 400Hm weit zu einer Corona-Teststation zu transportieren, um sich freizutesten. SUV sind so populär bei den Ü50ern, weil man da so bequem und rückenschonend ein- und aussteigen kann. Der LKW wird der Bahn bevorzugt, weil wirtschaftliche Interessen durch Consultants wie Ernst & Young forciert wurden, wodurch die Vor-Ort-Lager entfielen und eine Just-In-Time Belieferung in nahezu allen Branchen praktiziert wird. Zusammenfassend sind es eigene ökonomische Interessen und reale subjektive Erleichterungen im Alltag, die meistens für das Auto und den Lkw und gegen Bahn und Bike mit Anhänger sprechen – so ist der Tenor von unzähligen Meinungen privater Personen die ich auf meinen Wegen angesprochen habe. Ich bin froh über jeden Einzelnen, der sein Fahrzeug für eine Fahrt stehen lässt und das Bike bevorzugt. Noch glücklicher bin ich über Menschen wie dich, die ganz aufs Auto verzichten können, weil die Rahmenbedingungen passen. Der Pedelec-Hype kam erst vor 7 Jahren richtig in Fahrt. Die Gesellschaft braucht Zeit, sich anzupassen. Die Generation Auto wird weniger, langsam, aber stetig. Ich wünsche dir allzeit gute Fahrt!
Nachtrag
noch mehr nette Bilder von dem schönen Event:
https://www.freie-lastenradl.de/2022/09/15/bildergalerien-lastenradparcours-in-ffb-2022/